Barbi Marković
Das Verschwinden der Minipinguine
LESUNG & WORKSHOP
Mit Barbi Marković
Mit humorvollem Blick auf die skurrile Tierwelt und die uns umgebende Natur lädt die Autorin Barbi Markovic ein, sich selbst im kreativen Schreiben zu üben. Zum Abschluss liest die Autorin aus ihren Texten. Barbi Marković (* 1980 in Belgrad) verfasste zahlreiche Kurzgeschichten, Theaterstücke, Hörspiele sowie zwei Romane. 2023 erhielt sie den Kunstpreis Berlin für Literatur.
→ FR 29.9.
Workshop 15:00 – 17:30
Lesung 17:30
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Miki versucht, Flora und Fauna nicht zu sehr zu schaden und der Natur möglichst entgegenzukommen, damit die Erde nicht kaputtgeht. Eigentlich ist er nicht so selbstlos. Was er möchte, ist eine schöne, sanfte Natur, in der sein Leben und das Leben der nächsten Generation von Mikis nicht zur Hölle wird. Ihm ist klar, dass die Erde weiterexistieren würde, auch wenn alle von uns an der Erwärmung und ihren Nebenerscheinungen krepierten. Jedenfalls trägt er inzwischen eine Uhr, die ihm anzeigt, wie viele Wesen er getötet hat. An diesem Tag sind es zwei Spinnen, und er hat noch nicht einmal das Haus verlassen.
Im Geiste der Zeit … Auf ORF.at liest er über eine große, flächendeckende Umstellung, die in anderen Ländern wie Schweden einige Jahre vorher durchgeführt wurde: In Österreich werde ab sofort allen Einwohner:innen eine zufällige, lokal lebende Tierart zugeteilt. Im Rahmen eines neuen Nachhaltigkeitsprojekts gegen Artenschwund sei jede und jeder verpflichtet, die Verantwortung für eine Tierart zu übernehmen. Die Briefe mit der persönlichen Information, um welche Spezies es sich handelt, seien schon abgeschickt worden. „Falls Sie Ihr Kuvert in den ersten Wochen nicht erhalten, liegt das vermutlich an der hohen Anzahl der Aussendungen oder der Tatsache, dass Sie in Österreich nicht gemeldet sind“, heißt es.
Und so … Wochen vergehen, die Menschen erfahren allmählich, welche Spezies sie bekommen haben. Die Reaktionen sind hauptsächlich negativ, weil es von den bekannten in Österreich lebenden Tierarten viele gibt, die man nicht süß findet. Eine überwiegende Mehrheit bilden die Insekten.
Ein Arbeitskollege von Miki hat das Schwein bekommen. Er ist wütend. Mit dem Brief noch in der Jackentasche geht er essen und weiß nicht, was er bestellen soll. Eine Bekannte von Mini hat den Steinbock bekommen, den sie nur aus Tierdokus über die Alpen kennt. Solche Freundschaften sind vorerst theoretisch. Die Glücklichen, die Hamster, Hunde, Fische etc. gezogen haben, haben sich sofort Exemplare beschafft, bald darauf wird es fraglich, ob diese Art Haltung nicht genau das Gegenteil einer artenübergreifenden Nähe ist.
„Ich hoffe nur, ich bekomme keine Kakerlake“, sagt Mini. Die neuen Maßnahmen werden viel diskutiert, und gegen sie wird regelmäßig demonstriert, aber im Großen und Ganzen scheinen sich die Menschen daran zu gewöhnen.
Zwei Monate nach der Nachricht hat auch Mini ihren Brief bekommen. „Pinguine“, sagt sie zu Miki „was für ein Glück!“ „Wo in Österreich leben Pinguine?“, fragt Miki mit einem giftig gekrümmten Mundwinkel. „Im Zoo“, sagt Mini. Sie hat keine Lust, darüber zu streiten, auf ihrem Zettel steht Pinguine. Miki schüttelt zwar den Kopf, weil ihm das komisch vorkommt, aber jetzt hofft er auf ein Gürteltier. Das sind für ihn die besten und sympathischsten Erdenbewohner, mit ihren kleinen Käferbeinen. „Hihihi“, denkt Miki.
Seit ihrer Kindheit liebt Mini Pinguine und findet sie besonders und mysteriös. Im Belgrader Zoo waren sie immer ausgewiesen, aber ihr Wasserbecken war leer. „Vermutlich waren sie immer tot“, denkt Mini. Bei Minis letztem Zoobesuch in Belgrad haben sich die Wölfe gefetzt. Die Käfige waren zu eng und zu nah an den Besucher:innen. Überall standen Warnhinweise, dass man die Hände von den Käfigen fernhalten solle, nachdem ein Wolf einem Jungen einen Finger abgebissen hatte. Immer wieder drehte sich Mini um und stellte fest, dass sie mit dem Ellbogen an einem Käfig ankam. Ein Marder versuchte dem anderen das Hirn herauszukratzen, der Kopf des Opfers war ganz offen, sein Schädel- knochen sichtbar, überall lagen Teile der Marderkopfhaut. Und am Ende sah Mini, wie ein Junge seine ganze Hand durch das Gitter streckte und einen Puma streichelte. „Nur die Härtesten konnten dort überleben, und die Pinguine sind nie die Härtesten“, denkt Mini. Später hört sie Gerüchte, dass an Menschen und ihnen zugewiesenen Tierarten bald genetische Modifikationen vorgenommen werden würden, um sie einander näherzubringen und zu vermischen. Mini findet das nicht schlimm. Sie freut sich sogar für ihre eventuellen Nachkommen, dass sie Fisch gut vertragen werden können und in kaltem Wasser werden schwimmen können.
Und Miki? … Er ist sehr gut informiert, unter anderem weil sein Brief noch nicht gekommen ist. Während er wartet, durchlebt er verschiedene Phasen: Miki fragt sich, ob er überhaupt im System ist. Miki will sich beschweren. Miki hofft, dass er gar kein Tier bekommt, weil die guten sicher schon weg sind. Miki wird depressiv.
Miki ruft die Servicenummer an, erfährt aber nichts Neues. Und eines Tages liegt der Brief endlich im Postkasten.
Liebe Empfängerin, lieber Empfänger, es beginnt ein neues Kapitel für unser Land. Im Rahmen der nachhaltigen Aktion „Artenvielfalt 2028“ des BMUZ erhalten Sie jetzt Ihre Tierart zugewiesen. Jede und jeder in Österreich bekommt eine Art nach dem Zufallsprinzip – unabhängig von Einkommen, Herkunft, Geschlecht, Staatsbürgerschaft oder Alter. Denn nur so werden wir auch in der Zukunft eine vielfältig besiedelte, bewohnbare Erde haben. Bla bla bla. Das Ihnen zugeteilte Tier können Sie weder ablehnen noch tauschen. Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie ab sofort ein:e Freund:in und Beschützer:in der Heuschrecke sind. Wir wünschen Ihnen viel Glück mit Ihrer Tierart, für alle weiteren Informationen besuchen Sie artenvielfalt.gv.at. Ihr Bundesministerium für Umwelt und Zukunft
Miki ist nicht begeistert. Mit einem Insekt eine richtige Beziehung aufzubauen, erscheint ihm schwierig, und auf der Website steht nichts Konkretes. Trotzdem zeigen die Maßnahmen sofort Wirkung, denn Miki beginnt, sich für Heuschrecken zu interessieren. Er schaut Naturdokus. Er liest Bücher. So kippt er langsam richtig rein und wird Mitglied der ARGE Heuschrecken. In einem dicken Band über heimische Orthoptera wird sogar ein Bild von ihm abgedruckt, wie er auf einer unordentlichen Wiese auf nackten Knien krabbelt, um seine Spezies anzuschauen, während eine verärgerte Almkuh überlegt, ob sie angreifen soll. Auf dem Gruppenfoto kommt Miki auch vor, umgeben von Menschen in blauen und roten Funktionsjacken, die ein eingerahmtes Heuschreckenbild aus dem Biologieunterricht in die Kamera halten. Man kann sagen, dass es Miki gelungen ist, einen Zugang zu seiner Spezies zu finden.
Und dann wird er gebissen! Am Ende der Recherchetour ins Iseltal, an einem Heuschrecken-Hotspot. Miki weiß zu diesem Zeitpunkt sehr wohl, dass es Heuschreckenarten gibt, die die menschliche Haut perforieren können, aber er ist respektvoll und nimmt nie welche in die Hand. Leider stellt er beim Abstützen versehentlich seinen Zeigefinger direkt auf eine solche Schrecke. Sie packt zu, Miki schreit. „IIIK!“ Die Verletzung ist nicht schlimm, aber die Stimmung sinkt, und beide Parteien sind jetzt misstrauisch.
„Die wissen gar nicht, dass wir Freunde sind“, denkt Miki, während sein Zeigefinger noch pulsiert, und steigt ins Auto. Er will nur noch nach Hause fahren. Das Zittern in den Beinen schreibt er dem Bissschock zu. Dann schaltet er das Radio an und fährt los. Das Autofahren entspannt ihn sofort. „So schön“, denkt er, „ich kann hier laut singen.“ Miki liebt es, mit dem Auto zu fahren. Er tut es nur noch selten. Die Sonne scheint, und alle paar Kilometer knallt ein Insekt gegen die Windschutzscheibe. Die meisten sterben. Tk. Und die Uhr zählt sie nicht. Als er auf die Autobahn rauskommt, beschleunigt er und gerät in eine der selten gewordenen Insektenwolken, und dadurch wird die Sterbefrequenz der Insekten höher: Tktktktkt. Nur die Heuschrecken springen locker auf die Windschutzscheibe und bleiben darauf sitzen. Sie sind nicht tot, im Gegenteil, sie sehen Miki an. Er hat sowieso ein schlechtes Gewissen. „Was soll ich jetzt tun?“, denkt er. „Ich schaffe es nicht, weniger Schaden anzurichten.“ Miki findet die Lage in der Welt insgesamt furchtbar kompliziert und kann überhaupt keine Lösung für irgendetwas finden. Die Schrecken schauen vorwurfsvoll zu. Dann beschleunigt Mikis Herz, und sein Atem wird flach. Er weiß, was kommt, es ist nicht das erste Mal. Übermannt von einem Engegefühl, beginnt er stark zu rülpsen. Jeder einzelne Rülpser bringt ihm eine kurze Erleichterung, aber insgesamt verliert er die Kontrolle und kann sich schlecht aufs Fahren konzentrieren. Um keinen Unfall zu bauen, presst er die Zähne zusammen und fährt wie ein Held bis zur nächsten Ausfahrt, aber sobald er auf einem Parkplatz angehalten hat, wird ihm richtig schlecht, und er beginnt abzudriften …
Der ohnmächtige Miki sieht die Welt aus einer seltsamen Perspektive. Jahrhunderte vergehen im Eiltempo. Er sieht, wie große Teile der Erde austrocknen und zu Wüsten werden. Dann beobachtet er, wie sich Menschen in Gruppen nach Tierarten aufteilen und verschiedene Bomben aufeinander werfen. Das Meer rückt näher und verschluckt die Städte. Die Hitze wird unerträglich, aber die Erdbewohner lernen auch ein paar Tricks. Der Plastikgehalt von Fischen lässt wieder nach. Miki und Mini sind schon lange tot, aber ähnliche Leute entstehen, wir nennen sie Mini und Miki. Die Winter sind nicht mehr kalt, der Schnee verschwindet völlig, mit ihm alle Arten, die ihn zum Überleben gebraucht haben. Die durch die genetische Anpassung entstandenen Minipinguine findet man in Datenbanken der ausgestorbenen Mischwesen. Es überleben nur diejenigen, die mit Hitze umgehen können. Danach kommen harte Tage und eine Mikiplage. Es gibt kaum etwas zu essen. Die Populationsdichte sinkt weiter. Endlich verschwinden die Autos. Neue Wege werden eingeschlagen. Eine völlig veränderte Welt kommt zustande.
Weiter … Der ohnmächtige Miki sieht eine Wiese, die zwischen mehreren nackten Bergen liegt. In unregelmäßigen Abständen wachsen dort Büsche. Hoch oben auf einem Gebüsch gruppieren sich die Blätter anders und bilden eine feste Fläche, die an eine Bühne erinnert. Auf dieser Fläche präsentiert sich ein Wesen mit dem Kopf eines normalen Miki (auf der Stirn hat er lange Fühler) und dem Körper einer Punktierten Zartschrecke. Wie ein Kentaur, nur dass er aus einem Miki und einer Schrecke besteht. Das ist der Schreckenmiki. Er beginnt sehr leise zu singen, dabei bewegen sich seine verkürzten Flügel und seine langen Fühler in verschiedene Richtungen. Weitere Heuschreckenmikis kriechen aus dem Gebüsch und versammeln sich unter der Bühne. Jetzt haben wir die Szene, in der der erste Schreckenmiki oben seine Fühler kunstvoll bewegt und die anderen ihm von unten gebannt zusehen. Er zirpt gelegentlich. Die Versammelten reiben die Vorderbeine aneinander und spucken etwas Gelbes aufs Gras. Die Mikiköpfe der Schreckenmikis zittern am Ende jeder Zirpeinlage, als würden sie ein wenig lachen.
Aber jetzt beginnt sich Mikis Bewusstsein auf dem Parkplatz der Raststation wieder zu regen. Sein Körper setzt sich Punkt für Punkt zusammen. Zuerst fühlt sich Miki leicht und gleich danach schwach und elendig wie jeder Mensch, der gerade an der Grenze zwischen Leben und Nichtleben war. Nach dieser Vision ist ihm noch weniger klar, was er denken soll.
„Keine Ahnung“, sagt Miki zu sich selbst und zu euch. Ja, zu euch, weil er in diesem besonders empfindlichen Seelenzustand spüren kann, wie ihr auf die Moral der Geschichte wartet. Ihr saugt ihm seine ungeschützte Seele aus mit euren Erwartungen. Er möchte jetzt allein sein. * 1980 in Belgrad, lebt und arbeitet in Wien.
© Barbi Marković, Minihorror, Residenz Verlag 2023
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Barbi Marković erzählt in dieser Kurzgeschichte von Mini und Miki, die versuchen „der Flora und Fauna nicht zu sehr zu schaden und der Natur möglichst entgegenzukommen, damit die Erde nicht kaputtgeht.“ Dabei übernehmen die beiden Verantwortung für eine lokal lebende Tierart und versuchen eine Beziehung aufzubauen, die durchaus schräge Visionen zu Tage fördert.